5 Dimensionen, wie Arbeit und politische Teilhabe zusammenhängen
In den letzten Wochen habe ich – in Auseinandersetzung mit dem Schwerpunkt der Freiräume 2025 – das Buch „Der arbeitende Souverän“ von Axel Honneth gelesen und als sehr informativ und anregend empfunden. Honneths Ansatz hat mir neue Perspektiven auf die Verbindung zwischen Arbeitsbedingungen und demokratischer Teilhabe eröffnet.
Besonders spannend fand ich die Darstellung von fünf Dimensionen, die aufzeigen, wie unsere Arbeit unsere Möglichkeit zur politischen Mitgestaltung beeinflusst. Diese Dimensionen möchte ich dir in diesem Artikel vorstellen – mit Beispielen aus der Praxis, die verdeutlichen, wie diese Theorien in unseren Alltag hineinwirken.
- Ökonomische Dimension: Wirtschaftliche Unabhängigkeit ist eine Grundvoraussetzung für die demokratische Mitwirkung. Menschen, die wirtschaftlich abhängig sind oder in unsicheren Arbeitsverhältnissen stehen, konzentrieren sich oft auf die Sicherung ihres Einkommens. Sie vermeiden es häufig, ihre Meinung offen zu äußern, aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu gefährden. Ohne faire Arbeitsbedingungen, ausreichende soziale Absicherung und Mitspracherechte wird ihre demokratische Teilhabe stark eingeschränkt.
Beispiel: Ein Lieferdienstfahrer mit niedrigem Einkommen und ohne Absicherung fürchtet, seinen Job zu verlieren, wenn er kritische Meinungen äußert oder an Streiks teilnimmt. Diese Abhängigkeit hindert ihn daran, sich politisch zu engagieren.
- Zeitliche Dimension: Politisches Engagement erfordert arbeitsfreie Zeit, um Informationen zu sammeln, Meinungen zu bilden und an Diskussionen teilzunehmen. Arbeitszeiten, die zu lang oder geistig und körperlich stark erschöpfend sind, lassen wenig Raum für demokratische Beteiligung. Besonders monotone und wenig kontrollierbare Arbeiten können dazu führen, dass selbst die verbleibende Freizeit nicht zur politischen Partizipation genutzt wird, da die notwendige Erholung im Vordergrund steht.
Beispiel: Eine Pflegekraft mit Überstunden und Schichtarbeit hat keine Energie und Zeit, sich in bürgerschaftlichen Initiativen oder politischen Gruppen einzubringen.
- Psychologische Dimension: Selbstachtung und das Vertrauen in die eigene Meinung sind essenziell, um sich öffentlich in politische Debatten einzubringen. Menschen, deren Arbeit geringgeschätzt wird oder deren berufliche Position als minderwertig angesehen wird, entwickeln oft ein geringes Selbstwertgefühl. Dieses mangelnde Vertrauen in die eigene Relevanz hält sie davon ab, ihre Meinungen und Überzeugungen als wertvoll und bereichernd für die demokratische Debatte wahrzunehmen.
Beispiel: Eine Reinigungskraft, deren Arbeit von der Gesellschaft als „unbedeutend“ wahrgenommen wird, zweifelt daran, ob ihre politische Meinung überhaupt gehört wird.
- Soziale Dimension: Demokratische Mitwirkung setzt Erfahrungen mit kooperativen und partizipativen Prozessen voraus. Arbeitsumfelder, die auf Gehorsam und Konkurrenz setzen, hindern Beschäftigte daran, Kompetenzen für demokratische Zusammenarbeit zu entwickeln. Fehlen solche Erfahrungen, werden demokratische Prozesse als ineffektiv oder irrelevant wahrgenommen.
Beispiel: Ein Lagerarbeiter, der in einer strikten Hierarchie ohne Mitbestimmungsrechte arbeitet, entwickelt kaum Fähigkeiten, sich in demokratische Prozesse einzubringen, da seine Stimme am Arbeitsplatz keine Rolle spielt.
- Mentale Dimension: Eintönige und anspruchslose Arbeit reduziert langfristig die kognitive Flexibilität und Selbstwirksamkeit. Je monotoner die Arbeit, desto schwerer fällt es, sich aktiv und kreativ mit politischen Themen auseinanderzusetzen. Langfristig prägen solche Arbeitsbedingungen den Habitus und die Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten. Um diese Einschränkungen zu vermeiden, müssen Arbeitsaufgaben so gestaltet werden, dass sie kognitive Anregung und Raum für Eigeninitiative bieten.
Beispiel: Eine Fließbandarbeiterin, die täglich repetitive Tätigkeiten ausführt, verliert langfristig an Motivation und kognitiver Flexibilität, um sich aktiv mit politischen Themen auseinanderzusetzen.
Der Bezug zum Schwerpunkt der Freiräume (Un)Conference
Die von Honneth beschriebenen Dimensionen verdeutlichen, wie eng Demokratie und Arbeitsbedingungen miteinander verknüpft sind. Der Schwerpunkt der Freiräume (Un)Conference „Zwischen Autokratie und Demokratie – Organisationswelten neu denken“ verbindet sich gut mit Honneths Analyse. Die Freiräume fragen nach den Voraussetzungen und Auswirkungen von mehr partizipativer Zusammenarbeit in Organisationen und treffen damit den Kern der von Honneth diskutierten Dimensionen:
- Ökonomische Dimension: Transparenz in Entscheidungsprozessen und gerechte Entlohnung minimieren wirtschaftliche Abhängigkeiten, da Mitarbeitende weniger Angst vor willkürlichen Entscheidungen haben. Wenn z. B. klare Kriterien für Beförderungen oder Arbeitsplatzsicherheit bestehen, wird die wirtschaftliche Existenz planbarer, was den Raum für politisches Engagement erweitert.
- Zeitliche Dimension: Flexible Arbeitszeiten und eine bessere Balance zwischen Arbeit und Privatleben schaffen nicht nur Raum für Engagement, sondern verdeutlichen auch, dass Organisationen die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden anerkennen. Dies fördert das Vertrauen in die Organisation als partizipatives System und motiviert zur aktiven Mitgestaltung, ein zentraler Aspekt des Freiräume-Schwerpunkts.
- Psychologische Dimension: Wertschätzung und Anerkennung der Arbeit stärken das Selbstwertgefühl der Mitarbeitenden. Wenn Organisationen Strukturen schaffen, in denen alle Arbeitsformen als bedeutend anerkannt werden, fühlt sich jede:r Einzelne als relevanter Teil des Ganzen. Das stärkt das Vertrauen, auch über die Organisation hinausgehende politische Anliegen zu vertreten.
- Soziale Dimension: Organisationen, die demokratische Entscheidungsprozesse etablieren, dienen als Übungsfeld für gesellschaftliche Demokratie. Wenn Mitarbeitende erleben, dass ihre Meinungen bei Entscheidungen zählen, entwickeln sie die Kompetenz und das Vertrauen, auch im gesellschaftlichen Kontext partizipativ zu handeln. In den Freiräumen wollen wir zeigen und erarbeiten, wie diese Ansätze systematisch gefördert werden können.
- Mentale Dimension: Vielfältige und anspruchsvolle Aufgaben, die kreative und kritische Denkleistungen erfordern, fördern die geistige Beweglichkeit und Selbstwirksamkeit. Organisationen, die Mitarbeitenden Raum für Eigeninitiative bieten, wirken damit auch der politischen Apathie entgegen. Die Freiräume möchten hier praktische Beispiele aufzeigen, wie solche Strukturen etabliert werden können.
Man könnte es also so formulieren: Die Freiräume bieten die Gelegenheit, Honneths theoretische Einsichten in konkrete Handlungsempfehlungen für Organisationen zu übersetzen. Indem demokratische Werte im Arbeitsumfeld gestärkt werden, können Organisationen als Modell für eine partizipative Gesellschaft wirken.
Wie denkst du dazu?
Abschließend möchte ich dich noch einladen, über die Inhalte dieses Artikels nachzudenken. Die folgenden Reflexionsfragen sollen dir dabei helfen, die vorgestellten Dimensionen auf deine eigene Arbeit und deine Erfahrungen zu beziehen. Vielleicht entdeckst du Aspekte, die dir bisher gar nicht so bewusst waren, oder findest Ansätze, wie du selbst zu mehr demokratischer Teilhabe beitragen kannst.
- Welche der fünf Dimensionen spricht dich persönlich am meisten an? Warum?
- Inwiefern erkennst du in deinem eigenen Arbeitsumfeld Aspekte wieder, die Honneth beschreibt?
- Was könntest du selbst tun, um die demokratische Teilhabe in deinem Arbeitsumfeld zu stärken?
- Wie stellst du dir ideale Arbeitsbedingungen vor, die demokratische Prozesse fördern?
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