Unser Autor Richard Pircher wird uns auf der Freiräume (Un)Conference 2017 mit provokanten Thesen zum Thema Bildung anregen. In diesem Artikel beschreibt er wesentliche Merkmale von Organisationen der Zukunft, in denen Zusammenarbeit deutlich anders organisiert ist, als wir das gewohnt sind.

Richard Pircher

Richard Pircher

Die seit dem 19. Jahrhundert und noch heute übliche Art, wie Unternehmen in Pyramidenform strukturiert werden, hat einige wesentliche Vorteile. Durch ein sich rasch veränderndes Umfeld und neue Erwartungen der MitarbeiterInnen werden jedoch auch gravierende Probleme dieser Organisationsstruktur immer deutlicher sichtbar.

Das Konzept fix verteilter Managementrollen führt in der Regel zu Starrheit durch die Identifikation des Managements mit seiner Macht. Der Informationsfluss von marktnahen, operativen Bereichen zu den hierarchisch höher liegenden Management­funkt­ionen wird meist durch die „Lähmschichten“ der hierarchischen und Abteilungsgrenzen verlangsamt und verzerrt. Führungsebenen bilden einen überforderten Flaschenhals, weil sie den Kontakt zu vielem verloren haben, was sie zu entscheiden haben. Entscheidungen von großer Tragweite werden deshalb in der Pyramide oft ohne die Einbindung wichtiger Know-how-Träger mit Marktkontakt und viel zu spät oder gar nicht getroffen.

Weil das hierarchische Schicksal der Entscheidungsträger an diesen Entscheidungen hängt, wird eine einmal festgeschriebene Strategie weiterverfolgt, obwohl negative Auswirkungen sichtbar sind oder sich das Umfeld bereits verändert hat. Auf Veränderungsdruck wird mit Restrukturierungen reagiert, die häufig den tatsächlichen Veränderungsbedarf nicht wirklich beantworten, aber die Mitarbeitenden verwirren und nicht selten in einen ohnmächtigen Fatalismus führen. Führung, verstanden als Befehl und Kontrolle, ist oft nicht nur demotivierend für Untergebene, sondern mittlerweile immer häufiger auch für Vorgesetzte.

Viele Unternehmen „segeln orientierungslos durch dicken Nebel“, nicht nur wegen des immer weniger vorhersehbaren Umfeldes, sondern auch, weil ihnen die Strukturen fehlen, ihre eigene kollektive Intelligenz für die Navigation des „Schiffes“ zu nützen. Dies wiegt umso schwerer, als die Dynamik und Volatilität der Märkte durch Globalisierung und enorme technische Weiterentwicklungen ständig zunimmt. Radikale Innovationen können die Logik von vermeintlich stabilen Branchen grundlegend durcheinanderwirbeln und einstmalige Marktführer massiv erschüttern (Taxibranche/Uber, Hotelbranche/Airbnb, Handel/Amazon, Medien/Netflix, Banken/FinTech, …) oder verdrängen (z.B. Kodak, Nokia, …).

Für viele Menschen geht in herkömmlichen Pyramidenorganisationen oft der größere Zusammenhang der eigenen Tätigkeit verloren. Was der Sinn ihrer Arbeit ist, wissen und spüren sie nicht mehr. Untergebene fühlen sich häufig von Entscheidungen “von oben“ überrannt und demotiviert, weil sie ihre Sichtweise nicht einbringen können. Eigene Entwicklungsmöglichkeiten sind für sie oft sehr beschränkt, weil diese nur über hierarchische Positionen führen oder weil hohe Eintrittsbarrieren, wie lange Ausbildungen, etc. bestehen.

Wie können Organisationen für Kunden wie für Mitarbeitende interessant werden bzw. bleiben? Wie können die Entwicklung des Unternehmens und die der in ihm arbeitenden Menschen sich gegenseitig fördern, statt sich zu blockieren? Antworten auf diese Fragen haben innovative Führungskräfte und Eigentümer geliefert, die Zusammenarbeit in ihren Unternehmen vollkommen anders organisieren. Meist unter Einbeziehung der MitarbeiterInnen wurden Strukturen entwickelt, in denen keine fixen Managementpositionen mehr definiert und bei Entscheidungen die Sichtweisen einer größeren Anzahl von MitarbeiterInnen berücksichtigt werden.

Im Gegensatz zur Demokratie soll diese Partizipation aber nicht zum kleinsten gemeinsam Nenner, sondern zur intelligentesten Lösung führen. MitarbeiterInnen nutzen selbstgesteuert Entwicklungsmöglichkeiten, die in der Pyramide in der Regel nur Wenigen vorbehalten sind. Klare Strukturen und gegenseitige Abstimmung stellen einen effizienten und zielorientierten Ablauf sicher. Dabei handelt es sich um unterschiedlichste Organisationen, von wenigen bis zu 1.000en MitarbeiterInnen, in Produktion und Dienstleistung, gewinnorientiert oder NPOs, in Streu- oder Privatbesitz. Diese neuen Modelle der Gestaltung von Zusammenarbeit vermeiden einige Problemstellungen und Dynamiken der traditionellen, pyramidalen Managementhierarchie.

Manche Unternehmen haben ihren eigenen Ansatz zur managementfreien Organisation entwickelt, andere übernehmen ein bestehendes Konzept wie Scrum, Holacracy, etc. Im Veränderungsprozess wird entweder (vorerst) nur ein Teilbereich umgestellt, wie beispielsweise die Art, wie Meetings abgehalten werden, oder aber gleich das ganze Unternehmen transformiert.

Obwohl die einzelnen Konzepte nicht-pyramidaler Organisation sehr verschieden sind, lassen sich einige wesentliche Eigenschaften in unterschiedlichem Ausmaß immer wieder finden:

  • Dezentrale Entscheidungen und Verantwortung: Entscheidungen werden nicht von einzelnen wenigen fix nominierten Personen (ManagerInnen) getroffen und verantwortet, sondern von jenen KollegInnen (bzw. -gruppen), die mit und im betreffenden Themengebiet tätig sind und darüber Bescheid wissen.
  • Überschaubarkeit und Transparenz: Der eigene Tätigkeitsbereich und dessen Koordination mit anderen bleibt überschaubar, auch wenn insgesamt eine große Zahl von Personen zusammenarbeitet und sich koordinieren muss. Zentrale Informationen sind allen zugänglich.
  • Seinszweck: Sinn und Zweck der gemeinsamen Tätigkeit bilden den „Leitstern“ zur Ausrichtung der individuellen Tätigkeiten aller Beteiligten auf ein gemeinsames Ganzes hin. Die Organisation an sich wird nicht als Maschine, sondern als Aktivität von Menschen mit einer übergeordneten Zielsetzung gesehen.
  • Selbstorganisation: Aus den tatsächlichen Geschäftsnotwendigkeiten heraus entwickeln die betroffenen Personen die dafür am besten geeignete Organisationsstruktur und -kultur. Diese lebendige Struktur ermöglicht Handlungen, die den jeweils aktuellen Anforderungen entsprechen und im Unternehmenskontext koordiniert und auf den Seinszweck hin ausgerichtet sind.
  • Umfassenderes Menschenbild: MitarbeiterInnen werden nicht nur als Arbeitsfaktor oder Ressource, sondern als ganze Menschen mit (teilweise unbekannten) Potentialen betrachtet. Entsprechend stehen ihnen allen Entwicklungsmöglichkeiten offen, um (zusätzliche) Verantwortung zu übernehmen.
  • Hier und jetzt mit Ausrichtung: Weil die Bedeutung großer, längerfristiger Konzepte in Zeiten hoher Volatilität immer geringer wird, liegt der Fokus auf der Wahrnehmung der gegenwärtigen Anforderungen der Kunden, des Marktes, etc., statt auf langfristiger strategischer Planung. Diese Wahrnehmungen werden in einem kollektiven Meinungsbildungsprozess eingebracht. Die inhaltliche Ausrichtung konkretisiert den Seinszweck des Unternehmens und bietet Orientierung. Versuch und Irrtum werden als Weg in die Zukunft gesehen und wertgeschätzt.
  • Leadership als Sinnangebot und „holding the space“: Führung, die potentiell von jedem in der Organisation ausgeübt werden kann, versteht sich zunehmend als das Schaffen von Sinnangeboten, die durch die dafür motivierten Mitarbeiterenden genutzt werden. Durch die Selbstorganisation steht es grundsätzlich allen offen, Leadership zu übernehmen. Eine weitere zentrale Aufgabe von Leadership besteht darin, den Raum und die Kultur für die Selbstorganisation offen zu halten und zu schützen.
Stärken der SelbstorganisationHerausforderungen bei Selbstorganisation
  • Bessere Entscheidungen durch die Aktivierung der kollektiven Intelligenz aller
  • Mehr Commitment der MitarbeiterInnen
  • Weniger Schattenorganisationen und Machtkämpfe
  • Mehr Kollegialität unter den Mitarbeitenden und Loyalität mit dem Unternehmen
  • Mehr Initiative und Innovationskraft
  • Mehr individuelle Kompetenzentwicklung
  • Mehr Flexibilität
  • Kostenreduktion durch Wegfall von Managementpositionen ohne Produktivität
  • Musterbruch für ManagerInnen: Sind sie bereit, den Verlust ihrer hierarchischen Macht zu akzeptieren?
  • Musterbruch für MitarbeiterInnen: Es erfordert Verantwortungsübernahme und klare Kommunikation gegenüber den eigenen KollegInnen.
  • Es braucht ein für die Organisation geeignetes „Betriebssystem“, ein Organisationsdesign, das von den Mitarbeitenden akzeptiert, gelebt und in der Kultur verankert wird.
  • Die Entwicklung einer entsprechenden Kultur, die bisher üblichen Mustern und Erwartungen widerspricht, kann langwierig sein.

Einige Unternehmensbeispiele

Tele-Haase ist ein 1963 gegründetes österreichisches Unternehmen mit ca. 95 MitarbeiterInnen, das Steuerungs- und Kontrollelektronik in rund 60 Länder exportiert. Nach der Übernahme durch den Erben wurde gemeinsam mit den Mitarbeitenden eine Organisationsstruktur abseits der Pyramide entwickelt, die aus 3 Kernprozessen und 8 Supportprozessen besteht. Im Supportprozess „Regie“ sind Eigentümer und Geschäftsführer tätig. Die Mitarbeitenden treffen in Gremien mit Mehrheitsprinzip eigenständig alle Entscheidungen, gegen die der Supportprozess „Regie“ ein Vetorecht hätte, das jedoch bisher nie genutzt wurde. Das IT-Unternehmen

Netcentric wurde 2012 in Zürich gegründet und hat sich innerhalb von nur vier Jahren als der führende Systemintegrator für die Adobe Marketing Cloud in Europa etabliert. Die traditionelle hierarchische Aufbauorganisation, die zu Beginn etabliert wurde, erwies sich nach kurzer Zeit als hinderlich, den Start-up Spirit des Unternehmens beim Wachstum beizubehalten. Unter verschiedenen Organisationsansätzen entschied sich Netcentric 2014 für die Einführung von Holacracy als organisatorischem Betriebssystem. Heute realisieren 280 Mitarbeiter an weltweit 10 Standorten Projekte im Digitalen Marketing für internationale Kunden. 

Buurtzorg ist eine seit 2006 bestehende niederländische Non-Profit-Organisation zur Hauskrankenpflege. Während der Mitbewerb den Fokus auf möglichst schnelle und effiziente Versorgung legt, steht für Buurtzorg die Beziehung zu den Patienten und deren baldige Erholung im Vordergrund, damit sie wieder für sich selbst sorgen können. Buurtzorg organisiert sich radikal dezentral in kleinen autonomen Teams, die sich selbst managen und, falls benötigt, Unterstützung von der schlanken Zentrale erhalten. Innerhalb von 7 Jahren ist Buurtzorg von 10 auf 7.000 MitarbeiterInnen gewachsen. Von Buurtzorg betreute Patienten sind nur halb so lang in Betreuung, werden schneller gesund und sind autonomer. Laut einer Studie von Ernst & Young würde sich der niederländische Staat jährlich 2 Milliarden Euro sparen, würde alle Hauskrankenpflege nach diesem Prinzip abgewickelt werden. Das amerikanische Unternehmen

Morning Star stellt mit rund 400 MitarbeiterInnen Tomatenprodukte im Wert von ca. $ 700 Millionen pro Jahr her. Dabei erzielt es zweistellige Wachstumsraten, im Gegensatz zur Konkurrenz mit ca. 1 – 2 %. Morning Start organisiert sich ohne Management bzw. managen alle Mitarbeiterenden ihren eigenen Bereich selbst. Im Unternehmen gibt es marktähnliche Verhältnisse mit gegenseitigen Zusagen. Alle Mitarbeiter formulieren schriftlich ihren persönlichen Beitrag zum gemeinsamen Seinszweck. 

Die schwedische Handelsbanken mit rund 11.000 MitarbeiterInnen gehört zu den erfolgreichsten Banken Nordeuropas und hat als eine von drei Banken weltweit das höchste Credit-Rating von AA. Bereits in den frühen 1970er Jahren begann man sich von traditioneller Budgetierung abzuwenden, weil sie viele Ressourcen verschlang, neue Ideen unterdrückte und die Filialen zwang, sich an möglicherweise nicht mehr aktuelle Zahlen zu halten. Statt rigider zentraler Kontrolle setzte man auf Reporting und radikale Dezentralisierung, womit die Filialen Budgethoheit erhielten und die Budgets durch periodische Businesspläne ersetzt wurden. Diese Form der Organisation ermöglicht den Filialmanagern, sich zu Unternehmern im Unternehmen weiter zu entwickeln und ihre Interessen mit jenen der Handelsbanken-Aktionäre in Übereinstimmung zu bringen.

Autor: Prof. (FH) Dr. Richard Pircher, richard.pircher@fh-vie.ac.at, https://www.xing.com/profile/Richard_Pircher